Klaus oder mein heimliches Ich – Die Ess-Brech-Sucht

Klaus ist ein Schüler wie viele andere. Die tägliche Routine der Schule, der Hausaufgaben, der Prüfungen usw. kennt jede*r in diesem Alter. Er scheint kontaktfreudig und aufgeschlossen.

Ab und zu ist er etwas launisch, aber sonst ist wirklich nichts was bei ihm auffallen könnte. Wie man so schön sagt: „alles stink normal“. Niemand käme auf die Idee, dass er sich in der Masse der Schüler*innen verloren fühlt und stark mit seinem Selbstwertgefühl zu kämpfen hat. Auf der einen Seite ist er extrem angepasst und auf der anderen Seite tut er alles Menschenmögliche, um sein heimliches Leben als gieriges unbeherrschtes Wesen, das im ständigen Krieg mit sich selbst ist, zu verbergen.

Klaus leidet an Bulimie. Niemand kann sich vorstellen, welche Angstzustände das Dickwerden bei ihm auslöst. Er denkt ständig ans Essen und nutzt jede Gelegenheit, um Essbares zu kaufen. Getränke, süße, salzige, scharfe, saure Nahrungsmittel, wählerisch ist er nicht: Hauptsache es ist etwas zum Futtern. Doch die Heißhunger-Anfälle quälen ihn. Wenn er alleine ist, verliert er immer öfter die Kontrolle und schlingt alles runter, was gerade in seiner Reichweite ist. Wie von Sinnen.

Die Folge sind Schuldgefühle, die er mit Erbrechen, tagelangem Fasten, Sport oder mit Abführmitteln verdrängen möchte. Jedes Mal nimmt er sich fest vor, nie wieder Opfer der Gier zu werden. Aber es gelingt ihm nicht.

Er ist verwirrt. Warum passiert gerade ihm als Junge so etwas? An Ess-Störungen leiden ja nur Mädchen, oder nicht? Noch scheint ihm das Schweigen die beste Lösung zu sein. Nach und nach machen sich auch die körperlichen Folgeschäden bemerkbar: ihm wird schwindlig und Magen, Speiseröhre und Zähne spielen nicht mehr mit.

Zufällig findet Klaus in einem Zeitungsartikel die Adresse einer Beratungseinrichtung für Ess-Störungen. Männer werden nicht direkt angesprochen. Mit großer Skepsis und nach langem Zögern wagt er den mutigen Schritt. Hier kann er das erste Mal offen über sein Unbehagen sprechen und fühlt sich verstanden. Ihm werden verschiedene Untersuchungen im Krankenhaus empfohlen,
damit er sich erst einmal um den körperlichen Mangelzustand kümmern kann. Er überlegt sich, ob er bei einer angeleiteten Selbsthilfegruppe mitmachen soll. Warum nicht? Auch das Essverhalten hat psychische Hintergründe.

Wann bin ich bulimisch?

Check-up
• Hast du das Gefühl dein Essverhalten nicht unter Kontrolle zu haben?
• Willst du nach dem Essen alles wieder ungeschehen machen, indem du erbrichst, entsprechende Medikamente (Abführ-, Entwässerungs- Brechmittel usw.) nimmst oder extrem Sport betreibst?
• Hast du bereits seit zwei Monaten oder noch länger wöchentlich zwei oder mehrere solcher Attacken?
• Fürchtest du dich vor dem Dickwerden und denkst ständig an dein Gewicht und deine Figur (auch wenn du normale Mengen isst und dein Gewicht normal ist)?

Bulimie verursacht folgende körperliche Schäden:
• Schwellungen der Speicheldrüsen
• Zahnschmelzschädigungen durch zu viel Magensäure in der Mundhöhle
• Risse in der Speiseröhre und in der Magenwand
• Störungen im Magen-Darm-Trakt
• Haarausfall, brüchige Nägel, trockene Haut
• Niedriger Blutdruck
• Ödeme (Wasseransammlungen und Schwellungen im Gewebe)
• Menstruationsstörungen • Störungen des Stoffwechsels
• Herz-Rhythmus-Störungen

Psychische und soziale Folgen:
Obwohl Bulimiker*innen meist dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal entsprechen, sind sie von einer ständigen Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper geplagt. Die Bulimie erscheint zunächst als einfache Lösung, um essen zu können, wozu man gerade Lust hat und trotzdem dem eigenen perfektionistischen Körperideal gerecht zu werden. Nach und nach wird das bulimische Verhalten jedoch zum Zwang. Betroffene schämen sich und fühlen sich schuldig dafür, dass sie keine andere gesellschaftlich akzeptable Lösung (z.B. Hungern?!) für ihr Problem gefunden haben.

Es wird viel Zeit und Energie darauf verwendet, die Bulimie und die Organisation der Heißhungerattacken geheim zu halten, so dass Freundschaften und eigene Interessen zunehmend vernachlässigt werden. Dadurch geraten Betroffene immer mehr in soziale Isolation, können depressiv werden und Suizidgedanken entwickeln. Erschwerend kommt hinzu, dass für Fressanfälle viel Geld ausgegeben wird und so zusätzlich finanzielle Probleme entstehen können.

Was du noch wissen solltest:
• Mindestens 3-4% aller Frauen zwischen 15 und 35 Jahren sind von Bulimie betroffen. Es gibt auch betroffene Männer. Tendenz steigend.
• Bei ca. 30% der Bulimie-Betroffenen beginnt die Ess-Störung mit Symptomen der Magersucht.
• Das Überspringen von Mahlzeiten kann zu Essattacken führen.


Aus: Lollipop - rund ums Essverhalten, Young+Direct und Infes 2007