Lisa oder dünn, dünner am dünnsten – Magersucht
Lisa treibt schon früh morgens Sport bevor sie zur Schule geht. Die enge Kleidung, die sie trägt, zeigt wie dünn ihre Arme und Beine geworden sind. Lisa ist magersüchtig, streitet es aber total ab und tut so, als ob sie nie davon betroffen sein könnte.
Ihr ist dauernd zu kalt, die Hände sind gerötet, sie ist blass und wirkt abwesend. Ihr körperlicher Zustand ist jämmerlich, aber sie möchte es nicht wahrhaben, dass sie Hilfe braucht. Ihr Streben nach Perfektion bringt sie in der Schule zu auffallend guten Leistungen. Eigentlich sollte sie wegen ihrer Schwäche keine Klassenarbeiten und Prüfungen mehr machen dürfen, aber in unserer Gesellschaft geht bekanntermaßen Leistung und Bildung vor Gesundheit. Wie lange sie es wohl noch durchhält? Man könnte meinen, dass bei ihr die Alarmglocke kaputt ist! Woher soll sie die Energie schöpfen, wenn sie sich nicht mehr ernährt? Doch Lisa ist wirklich davon überzeugt, dass zwei Äpfel und ein Magermilchjoghurt am Tag ausreichen.Dass sich die Gedanken von Lisa immer nur ums Essen drehen, hat niemand gemerkt. Sie ist eine überdurchschnittlich gute Schülerin, treibt Sport und sie bekocht auch öfters freiwillig und sehr gerne die ganze Familie! Es ist schwierig zu verstehen, dass Menschen, die zu wenig essen, automatisch immer ans Essen denken. Für Lisa ist das Kochen ein gutes Ventil, obwohl sie von dem, was sie vorbereitet, selbst nie etwas isst. Ihre Eltern haben es sofort unterstützt, als ihr „Pummelchen“ plötzlich auf gesunde Ernährung umstieg: sie sind sogar stolz auf die neue Figur und das neue Aussehen ihrer Tochter.
Dass sie lautlos wie ein Rechner zwanghaft alle Kalorien der aufgenommenen Nahrung zählte, dass ihr Wunschgewicht immer niedriger wurde und dass sie mit den Bedürfnissen ihres Körpers einen taktischen Kampf begann, geschah unauffällig. Um heftige Reaktionen zu vermeiden, spricht in der Familie niemand mehr ihr merkwürdiges Verhalten an. Ihre Mutter hofft heimlich, dass Lisa wieder von alleine eine bestimmte Balance findet. Ihr Vater hingegen kann es überhaupt nicht begreifen, wie ein Mensch so stur das Essen verweigern kann. Er meint es gut, aber mit spöttischen Bemerkungen wird er sicher nichts erreichen.
Seitdem die Frauenärztin klipp und klar erklärt hat, warum bei Lisa die Monatsblutung schon seit mehreren Monaten ausbleibt, ist in der Familie die Krise ausgebrochen. Es herrscht Ratlosigkeit, Angst und eine große Portion Wut. Die Spannung zuhause ist kaum auszuhalten. Die Gynäkologin hat die Adresse einer Beratungsstelle weitergegeben, denn Magersucht ist nicht mit Medikamenten zu heilen.
Bevor Lisa irgendeine Hilfe in Anspruch nimmt, hungert sie sich auf 36 kg runter bei einer Größe von 1,67 m. Zum Glück ist es nicht nur der dringende Appell des Arztes, der sie zu einer Behandlung bewegt. Die Alarmglocke scheint wieder zu funktionieren, Lisa sieht langsam ein, dass ihr Essverhalten problematisch geworden ist. Dies ist die beste Voraussetzung, um die Magersucht zu überwinden. Ihre Eltern möchten sie so weit wie möglich unterstützen und werden ebenfalls eine Beratung in Anspruch nehmen. Rückfälle sind möglich, aber die ersten Schritte in Richtung Veränderung sind getan.
Bin ich magersüchtig?
Es ist nicht einfach zu erkennen, dass man ein Essverhalten hat, das aus der Balance geraten ist. Aber nur, wenn du merkst, dass du damit ein Problem hast, kannst du etwas dagegen tun.Check-up
• Hast du in kurzer Zeit bis zu 15% deines Gewichts verloren?
• Hast du dafür ganz streng gefastet, extrem Sport betrieben Abführmittel eingenommen oder den Finger in den Mund gesteckt?
• Denkst du dauernd ans Essen und an deine Figur?
• Hast du Angst davor, wieder zuzunehmen?
• Bist du sehr streng mit dir selbst und möchtest du, dass alles perfekt ist?
• Bist du sehr aktiv, eher schon hyperaktiv?
• Wenn du dich im Spiegel anschaust, findest du dich immer noch zu dick, obwohl deine Waage ganz etwas anderes anzeigt?
Wenn ich zu wenig esse, schade ich meinem Körper:
• Stoffwechsel, Puls und Körpertemperatur sinken, was zu Frieren, Müdigkeit, Verstopfung und im schlimmsten Fall zum Tod führt.
• Es kommt zu hormonellen Veränderungen, die das Ausbleiben der Menstruation, trockene Haut, brüchige Haare und Körperflaum bedingen.
• Langandauernde Magersucht kann zu Osteoporose (Knochenbrüchigkeit) führen.
Psychische und soziale Folgen:
Magersüchtige sehnen sich nach Anerkennung und Verständnis, vermitteln häufig aber das Gegenteil: ihre Fixierung darauf, immer dünner zu werden und ihre Genugtuung, wenn sie dies auch schaffen, wirkt auf andere oft bedrohlich und arrogant. Kontakte zu halten wird so immer schwieriger. Das Gefühl, nicht verstanden zu werden und keine Freunde und Freundinnen mehr zu haben, verursacht bei vielen Betroffenen schwere depressive Verstimmungen, den Verlust an Lebensfreude und Gedanken an Suizid.
Das Selbstwertgefühl magersüchtiger Menschen hängt von ihrem Körper ab, der möglichst dünn sein sollte. Aber sogar bei starkem Untergewicht finden sich viele noch zu dick und es gelingt ihnen nicht, ihren Körper oder bestimmte Teile des Körpers zu akzeptieren. Also wird weitergehungert.
Was du noch wissen solltest:
• Jedes 7. Mädchen kann an Magersucht erkranken. Auch Buben sind zunehmend betroffen.
• Obwohl fast die Hälfte aller von Magersucht Betroffenen die Erkrankung vollständig überwindet und weitere 30% soweit sind, dass sie mit der Erkrankung ein annähernd normales Leben führen können, liegt die Sterblichkeitsrate immer noch bei 4%.
• Das von den Medien propagierte Schönheitsideal ist irreal und kann nur durch Hungern erreicht werden: Models haben oft über 20 kg Untergewicht.
Aus: Lollipop - rund ums Essverhalten, Young+Direct und Infes 2007